Auf der Internationalen Konferenz zu Modellen des Bürgerhaushaltes hat Volker Vorwerk am 21. und 22. Januar 2010 das Forum I: Bundesweite und internationale Beispiele moderiert. Die Konferenz war von der Bundeszentrale für politische Bildung, von inwent und dem Centre Marc Bloch in Berlin organisiert worden. Die Ergebnisse von Forum I werden hier zusammengefasst und um eigene Überlegungen ergänzt.
Ergebnisse Forum I: Bundesweite und Internationale Beispiele
Weltweit werden immer mehr Bürgerinnen und Bürger von den politisch-administrativen Vertretenden der Städte und Gemeinden gefragt: Wofür soll die Stadt die öffentlichen Gelder ausgegeben? Wie kann gespart werden? Wie können zusätzliche Mittel eingenommen werden? Eine neue politische Institution erobert die Städte dieser Welt. Vielfältige Facetten dieser Innovation wurden im Forum I des „Internationalen Kongresses zu Modellen des Bürgerhaushalts“ im Januar 2010 in Berlin zusammengeführt.
Ob als Orçamento Participativo in Brasilien und Portugal, als Participatory Budgeting in englischsprachigen Ländern Afrikas, Amerikas, Asiens, Europas oder Ozeaniens, als Presupuesto Participativo in spanisch sprechenden Teilen der Welt, als Medborgarbudget in Schweden oder als Bürgerhaushalt in Deutschland, die Zahl der Länder und der Städte, in denen die lokale Bevölkerung an der kommunalen Finanzplanung beteiligt wird, wächst.
Bürgerhaushalt, ein universelles Verfahren
An dieser Entwicklung erstaunt, dass sie vergleichsweise unabhängig von den demokratischen Traditionen und der wirtschaftlichen Lage in den Ländern zu sein scheint. Sowohl junge als auch etablierte Demokratien zeigen partizipative „Lücken“ bei der Aufstellung von kommunalen, öffentlichen Haushalten. Sowohl in entwickelten als auch zu entwickelnden Volkswirtschaften zeigen sich in mehrfacher Hinsicht Defizite bei den öffentlichen Haushalten.
Ähnlich ist allen Bürgerhaushalten, dass sie die Steuerzahlenden und Adressaten kommunaler Leistungen beratend und deliberativ an politisch-administrativen Entscheidungen beteiligen wollen (Konsultation). Dazu wird entweder ein Teil des Budgets für den Bürgerhaushalt zur Verfügung gestellt oder die Empfehlungen und Präferenzen werden in der Budgetplanung berücksichtigt. Bürgerhaushalte sind hinsichtlich des Grades der Partizipation einerseits von der bloßen Information der Öffentlichkeit über die Nutzung der öffentlichen Mittel (Transparenz) und andererseits von verbindlichen Entscheidungen – etwa in Form finanzwirksamer Referenden oder Bürgerentscheide (Mitentscheidung) – abzugrenzen.
Good Governance und Verwaltungsreform
Die Länder des afrikanischen Kontinents haben – ähnlich wie in Brasilien zu Beginn – mit Korruption und einer wenig entwickelten kommunalen Verwaltungsstruktur und -kultur zu tun. Entsprechend ist die Diskussion um den Bürgerhaushalt eng mit dem entwicklungspolitischen Leitbild des „Good Governance“, der Stärkung der Kommunen und der Dezentralisierung der politischen Macht verwoben (Vortrag von George Matovu). Auch in etablierten Demokratien mit einer vergleichsweise langen Traditionen autonomer kommunaler Selbstverwaltung – wie Schweden und Deutschland – gibt es Reformbedarf.
Parallel, aber unabhängig zur Diskussion um die Bürgerhaushalte, wird in Deutschland beispielsweise eine an Unternehmen orientierte doppelte Buchführung eingeführt, um die Transparenz und die Steuerung der kommunalen Finanzen zu verbessern. Wichtige Impulsgeber für diese Reformen sind die politisch-administrativen Führungskräfte, denn Bürgerhaushalte werden in der Regel „von oben“ eingesetzt und der Erfolg hängt maßgeblich von der Unterstützung in Verwaltung und Politik ab. Auf der anderen Seite wird die Bevölkerung nur mitmachen, wenn ihre Mitwirkung sichtbare Wirkungen erzielt. In Afrika spielen zudem entwicklungspolitische Organisationen und die Geberländer eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Bürgerhaushalte.
Bürgerhaushalte und direkte Demokratie
Die Ergebnisse von Bürgerhaushalten haben empfehlenden Charakter, die formelle Entscheidung über den Haushalt verbleibt bei den politisch-administrativen Repräsentierenden. Insofern ähneln Bürgerhaushalte formell Petitionen. Lediglich in der Schweiz und einigen Bundesstaaten der USA ist überhaupt eine Entscheidung in Haushaltsfragen durch die Bevölkerung verfassungsrechtlich vorgesehen. Diese direkt-demokratischen Verfahren werden aber nicht zu den Bürgerhaushalten gerechnet.
Transparenz verbessern
Die Beteiligung der Bevölkerung wird nicht nur als demokratischer Wert an sich gesehen. Eine verbesserte Transparenz soll Korruption mindern und die Zielerreichung der öffentlichen Ausgaben verbessern. Überdies wird der kaum sichtbare und mitunter vereinseitigende Einfluss durch Haushaltsexperten in Rat und Verwaltung gemindert. Entsprechend steht am Anfang der Bürgerhaushalte ein sogenannter lesbarer Haushalt, die verständliche Information der Bevölkerung über die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben. Die Verwaltung lernt, sich verständlicher auszudrücken und Politik sowie Bevölkerung lernen, den Haushalt besser zu verstehen. Der Haushalt wird für alle durchschaubarer. Bei Staaten, die Finanzmittel von Drittstaaten in Form von Entwicklungshilfe erhalten, drängen einige Geberländer auf eine verbesserte Transparenz und die Einbeziehung der Bevölkerung. Ein Mittel hierfür sind Bürgerhaushalte. In wirtschaftlich entwickelten Ländern wird immer häufiger die Bevölkerung direkt in die Finanzierung von Maßnahmen einbezogen. So werden bestimmte Maßnahmen, etwa der Betrieb von Freibädern, mit Hilfe von ehrenamtlich Tätigen, Spenden oder Bürgerstiftungen sicher gestellt. Entsprechend wächst das Bedürfnis nach transparenten Informationen über die kommunale Haushaltslage.
Konsultation: Bedürfnisse der Bevölkerung berücksichtigen
Die institutionelle Ausgestaltung der Bürgerhaushalte variiert erheblich, was nicht zuletzt an einer weitgehend fehlenden rechtlichen Verankerung der Prozesse liegt. Am weitesten verbreitet sind verschiedene Formen und Kombinationen von dezentralen und zentralen Versammlungen. Die Bandbreite reicht von komplexen Abfolgen verschiedener Gremien mit Delegiertenwahlen (Porto Alegre, Sevilla; Vortrag von Ernsto Ganuza), über dezentrale und zentrale Versammlungen (Maputo; George Matovu, Berlin-Lichtenberg; Christina Emmerich) bis zu einer zentralen meist eintägigen Versammlung mit bisweilen zufällig ausgewählten Teilnehmenden (Steinfurt; Andreas Hoge).
Der Bürgerhaushalt in Sevilla greift das ursprüngliche Konzept von Porto Alegre auf und stellt Fragen der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. In einem umfassenden Regelwerk zum Bürgerhaushalt werden Kriterien festgelegt, nach denen die Vorschläge aus den Stadtteilkonferenzen priorisiert werden, bevor die verschiedenen Maßnahmen in extra gebildeten stadtteilübergreifenden Gremien verhandelt werden.
Insbesondere in Deutschland (Berlin-Lichtenberg) und Schweden (Lena Langlet) spielt das Internet eine wichtige Rolle. Dort werden Vorschläge gesammelt, kommentiert und durch Bewertungen zumeist in eine Rangliste überführt; teilweise werden auch Vorschläge von Verwaltung und Politik bewertet und kommentiert. Einige deutsche Städte (Trier, Köln) nutzen fast ausschließlich das Internet.
Eine dritte Säule ist der Einsatz von Fragebögen, die beispielsweise an zufällig ausgewählte Haushalte verteilt werden und mit denen die von der Verwaltung geplanten oder in Bürgerversammlungen und im Internet gesammelten Maßnahmen bewertet und in eine Rangliste überführt werden können (Berlin-Lichtenberg).
Die thematische Ausgestaltung der Bürgerhaushalte variiert zwischen umfassenden Ansätzen mit der Berücksichtigung von Aspekten der sozialen Gerechtigkeit (Sevilla) bis zur einfachen Sammlung und Bewertung von Vorschlägen (Berlin-Lichtenberg). Erste Verbindungen zum Gender Budgeting gibt es in Berlin-Lichtenberg. Alle Formen der Beteiligung vermehren die Informationen über die Präferenzen der Beteiligten und bewirken, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung besser in den Entscheidungen berücksichtigt werden können.
Beteiligte
Eine zentrale Aufgabe der Bürgerhaushalte in allen Ländern ist, ausreichend viele Personen aus allen Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Wenn schon keine statistische Repräsentativität im strengen Sinne zu erreichen ist, so soll die Zusammensetzung doch möglichst heterogen sein. Ein nützliches Verfahren ist die Zufallswahl der Beteiligten. Hiermit werden am ehesten auch weniger aktive Personen erreicht und nicht (nur) die bereits Organisierten oder die „üblichen Verdächtigen“.
In einigen afrikanischen Bürgerhaushalten führte die Kenntnis über die strukturelle Benachteiligung von Frauen dazu, dass diese ihre Anliegen in getrennten Versammlungen entwickeln können. In Schweden wurde die mangelnde Beteiligung von Jugendlichen als Anlass genommen, Beteiligungsprozesse auf den Weg zu bringen, die sich in erster Linie an diese richten.
Um Jugendliche zu erreichen, hat sich insbesondere das Internet bewährt. Interessant sind die Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung spanischer Bürgerhaushalte (Ernesto Ganuza), die sich in weiten Teilen mit der Situation in Deutschland decken. Mit Bürgerhaushalten werden in Spanien etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung erreicht. Männer sind zunächst überrepräsentiert, aber nach mehrmaliger Durchführung der Bürgerhaushalte überwiegen Frauen. Bei den Altersgruppen sind die 30 bis 59 jährigen stärker vertreten, als ihr Anteil an der Bevölkerung ist. Der Anteil der (politisch) organisierten Personen nimmt mit der Zeit zu. Die Teilnahme an Versammlungen wird insgesamt vor allem durch das Alter, die vertretende Ideologie, das Interesse an Politik und die Organisiertheit stark beeinflusst.
Ausblick
Die vielfältigen Ausgestaltungen und weitgehend informell ablaufenden Bürgerhaushalte versprechen eine weiterhin spannende Entwicklung dieser noch jungen Institution. In Anlehnung an die Kommentare von Josh Lerner und Nicolas Bach zu den Vorträgen erscheinen folgende Fragen als bedeutsam:
- Welche Visionen und großen Fragen lassen sich mit den Bürgerhaushalten verbinden (z.B. soziale Gerechtigkeit, good governance)?
- Welche Funktion hat die Deliberation im Beteiligungsprozess (Selbstzweck, bessere kommunale Leistungen, Empowerment)?
- Wie gut gelingt die Anbindung an die Entscheidungsprozesse? Ist eine stärkere rechtliche Verankerung förderlich? Ist eine Annäherung an direkt-demokratische Entscheidungsverfahren sinnvoll?
- Werden Bürgerhaushalte die etablierten politisch-administrativen Institutionen ändern (change)? Welche Lernprozesse können angeregt werden?
- Werden eher komplexe Prozesse dominieren, die Kriterien der sozialen Gerechtigkeit berücksichtigen? Oder geht es mehr in Richtung vorschlagsorientierte Verfahren?
- Welche Rolle werden die neuen Medien und das Internet spielen? Ermöglichen sie höhere Beteiligtenzahlen?
Wir dürfen gespannt sein, in welche Richtung sich Bürgerhaushalte entwickeln, wie sie Eingang ins Kommunalrecht finden und wann sich das Konzept auf andere öffentliche Organisationen oder übergeordnete staatliche Ebenen ausdehnt.